Wednesday, 5 February 2020

Selby Semela und die Generation des Aufstands


Michael Schmidt
Die Klasse von 1976
Selby Semela und die Generation des Aufstands
Holger Marcks & Matthias Seiffert (Hg.): Die groRen Streiks, UNRAST-Verlag, Münster, Deutschland, 2008

Selby Semela, 1958 in eine große »schwarze« Arbeiterfamilie geboren, spielte eine führende Rolle bei dem Aufstand, der am 16 Juni 1976 in Soweto ausbrach 
Innerhalb eines Jahres wurde er vom Apartheid-Staat ins Exil gezwungen Niedergelassen
in den USA, stand er in Verbindung mit der ExilbewegUng und der radikalen Szene
in Amerika. In dieser Zeit wurde er vom Situationismus beeinflusst. Er kehrte nie
wieder nach Südafrika zurück.
1976 war Semela 18 Jahre alt Er war aktiv im African Student Movement (ASM),
einem Zusammenschluss, der zu der Bewegung des Black Consciousness (BC) gehörte
und der Schüler in den Schulen Sowetos organisierte Das ASM versuchte später seinen
Wirkungskreis auf andere Townships auszudehnen und änderte seinen Namen
in South African Student Movement (SASM). Als die Unzufriedenheit 1976 anwuchs,
spielte das SASM eine Schlüsselrolle bei der Mobilisierung von Schülern. Semela selbst
wurde zum Kassenwart des »Aktionskomitees« gewählt, das von Oberstufenschülern
gegründet wurde, um die Massendemonstrationen an jenem schicksalhaften 16. Juni
zu organisieren. An diesem Tag kam es zum Zusammenprall zwischen Schülern und
der Polizei in Soweto. Bis zum Mittag waren die Townships von Krawallen überzogen
und die Proteste breiteten sich schnell über das Land aus, sich zu einer Reihe von
Generalstreiks und Erhebungen in deh Städten auswachsend. Es sollte mehr als ein
Jahr dauern, bis der Aufstand niedergeschlagen werden konnte.
Semela war unter den Hunderten, womöglich Tausenden von Aktivisten, die während
dieses heißen Jahres ins Exil flohen. Wie andere Aktivisten Sowetos war er ein
Ziel von Polizeiaktionen, und tatsächlich wurde er auch von eihem »schwarzen«
Polizisten angeschossen und verwundet. Er lebte zunächst im Untergrund, floh dann
nach Botswana und schließlich nach Großbritannien, von wo aus er in die USA kam.
Ein Foto, das 1977 in London gemacht wurde, zeigt ihn mit seinem Freund Teboho
»Tsietsi« Mashinini, seinem Weggefahrten und Vorsitzender des Aktionskomitees,
der eine zentrale Rolle während des Aufstands spielte. Ihre jugendlichen Gesichter
sind erfüllt von Hoffnung, im Schulterschluss strecken sie ihre Fäuste in die Luft
Mit 19 Jahren war Mashinini eine Art Dandy, der von Mädchen wegen seiner abgefahrenen
Schlaghosen und seines Afros begehrt wurde, aber auch ein ernsthafter Militanter, 
der sich seine Sporen in Straßenkämpfen gegen lokale Gangster und als Redner im Debam'erclub der Schule verdiente.
Doch das Band ihrer Freundschaft sollte nur kurz währen. Wie in anderen Gemeinden
politisch Emigrierter rieben sich die Exilanten der »Klasse von 1976« in heftigen Debatten und Auseinandersetzungen auf. Viele Exilanten traten schließlich den älteren nationalistischen Gruppen bei, insbesondere dem African National Congress
(ANC), der in Südafrika verboten war. Andere versuchten, die BC-Bewegung
zu reformieren, indem sie 1979 eine BC-Exilorganisation gründeten mit den Zentren
in Großbritannien und Nigeria.
Semela jedoch zog andere Konsequenzen. Aus den Eifahrungen von 1976 entwickelte
er zunehmend Kritik an der BC-Tradition. 1979 lebte er in der Radikalenhochburg 
Berkeley (Kalifornien) und wurde vom Situahonismus inspiriert. In einem Text
kritisierte er dann die autoritaren Elemente der Kampfe von 1976-1977. Die Revolte
zeigte seines Erachtens die Wichtigkeit von Selbstorganisahon - und dennoch wurde
das Aktionskomitee im August 1976 in den Soweto Students' Representative
Council (SSRC) umgewandelt, dem das Konzept einer »selbsternannten Exekutive
zugrunde lag, die diktatorisch kontrolliert wurde von dessen Vorsitzenden«, zu
jenem Zeitpunkt Murphy Morobe, der später ein ANC-Führer werden sollte. Die
exilierte BC-Bewegung habe diese Lektion nicht gelernt. Der Aufstand machte die
Kraft der Spontaneität der Arbeiterklasse und des Massenkampfes deutlich, doch
die selbsternanntep BC-Führer wendeten sich dem leninistischen Autoritarismus
zu und »erhobeh laut Anspruch auf die zweifelhafte Ehre einer Avantgarde-Partei«.
Das ganze Projekt degenerierte zu »isolierten Gruppen radikaler Cheerleaders«,
hungrig nach Medienberühmtheit und Auslandsanlagen und besessen von Macht.
Zweifelsohne hatte er bereits solche Tendenzen bei seinem einstweiligen Genossen
Mashinini feststellen müssen.
Das Pamphlet wurde in weiten Kreisen der Exil- und Antiapartheidbewegung gelesen
-weltweit. Doch es wurde gemieden von den Verfechtern sowohl des ANC als
auch der BC-Exilorganisation und hatte keine Wirkung in Südafrika. Ab Ende 1970er
Jahre befand sich die BC-Tradihon in einem steilen Abstieg. Der ANC, der nur eine
Randerscheinung in den 1970er Jahren war, wurde neu aufgebaut und übernahm
die Fackel der nationalen Befreiungsbewegung. Schon relativ früh befürwortete
der ANC politische Gewalt gegen die BC-Bewegung: so rief er in einer Rundfunkübertragung aus dem Untergrund von 1978 ausdrücklich dazu auf, dass eine Reihebestimmter BC-Persönlichkeiten »liquidiert« werden sollte.
Semelas scharfe Kritikan der Bürokratisierung und Verknöcherungdurch Machtstrukturen
in »Volksbewegungen« ist auch heute noch von Wert - wenn auch mehr in
dem Licht betrachtet, wie z.B. der ANC an der Macht zunehmend zu einer autoritären
Partei degenerierte, die eine Mischung aus elitärer Bereicherung, afrikanisch-
nationalistischer Demagogie uhd neoliberaler Umstrukturierung hervorbringt.
Semela lebt heute zurückgezogen in New York City. Sein Name ist so gut wie vergessen
in Südafrika: keine umfangreiche Biographie, kein Platz in der nationalen
Erinnerung. Für den ANC und die BC-Exilanten ist er eine unbequeme Person, die
man besser vergisst.

[ENDE]